Vom Schiff zum Boot. Zu einer medialen Archäologie der Globalisierung

Von: Sarah Sander

Lange hat das Schiff mit seiner imposanten Größe, seinem klar umgrenzten Raum und seiner vielgliedrigen Mannschaft, an deren Spitze der Kapitän als Kopf und Souverän stand, als Modell und Metapher für den Staat gedient, da sich in diesem Bild besonders deutlich die Notwendigkeit einer guten Führung und eines geordneten Zusammenspiels der Mannschaft zeigen ließ. Im 20. Jahrhundert wandelte sich die Staatsmetapher Schiff dann in das Bild einer Maschine, die eher als Gesellschaftsspiegel denn als Regierungsmodell funktionierte: Die ›schwimmenden Städte‹, als welche die Transatlantikliner zu Beginn des 20. Jahrhunderts beschrieben wurden, waren Motoren der metropolitanen Gesellschaft, die mit ihnen zusammenhing. Die überfüllten Fischerkähne und kaum seetüchtigen Schlauchboote, die seit Beginn der 2000er Jahre über unsere Bildschirme wie übers Mittelmeer nach Europa kommen, lassen sich dagegen als Korrelat eines Gesellschaftszustands lesen, der nicht mehr durch ein Schiff als Staatsmetapher repräsentiert werden kann. Die brüchigen Boote zeigen so ein Versagen des Politischen an: Sie sind ein Bild für den Untergang der Menschenrechte im Mittelmeer, indem sie migrantische Subjekte produzieren, die auf ihr ›nacktes Leben‹ reduziert werden, um in Europa an Land gehen zu können. Der Beitrag fokussiert das Boot als aktuelle mediale Fassung und Formation von Migration, die eng mit der Datafizierung und Militarisierung der Meere zusammenhängt. Der Artikel zielt damit auf eine mediale Archäologie der Globalisierung, welche die Funktion der seeuntüchtigen Boote und die epistemische Verfasstheit der Meere als ›nomos‹ unserer Zeit fasst. Auf Basis der audiovisuellen Analysen des aktuellen Grenzregimes durch Forensic Architecture wird untersucht, wie die Brüchigkeit der Boote mit einer Politik des Sterben-Lassens im Mittelmeer zusammenhängt. Meine zentrale These hierbei ist, dass wenn die überfüllten Schlauchboote ohne Navigationsgerät, ohne ausreichend Benzin und ohne Steuermann oder -frau in die Nacht nach Europa hinausgeschickt werden, da nur ein in Seenot befindliches Boot von der Küstenwache gerettet und in Sicherheit geschleppt wird (und nur so ein Anrecht auf Asyl geltend gemacht werden kann), die Boote als Vexierbild des derzeitigen Grenzregimes zu verstehen sind: Sie sind die Kehrseite der ›Festung Europa‹; ein Bild für die aktuelle politische Lage, das auf die strukturelle Verfasstheit der EU verweist, die sich durch Ein- und Ausschlüsse bzw. Reisefreiheit im Innern und fortifizierte Außengrenzen definiert. In den zwangsläufig prekären Passagen übers Mittelmeer zeigt sich somit die ›dunkle Seite‹ der Globalisierung, die ihre Schlagschatten auch auf die europäische Selbstkonzeption wirft.